Sigmund Freud und die Aufmerksamkeitsstörung

Gruppenfoto 1909 vor der Clark University. Vorne: Sigmund Freud, Granville Stanley Hall, C. G. Jung. Hinten: Abraham A. Brill, Ernest Jones, Sandor Ferenczi.

Bei der Vielzahl der von Freud beschriebenen psychischen Auffälligkeiten überrascht es nicht, daß dieser vielleicht wichtigste Forscher des 20. Jahrhunderts um die Problematik der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung wußte, wobei er selbst sich nicht als betroffen ansah. Er sagt dies klar in seiner Schrift „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“:

„Es gibt Menschen, die man als allgemein vergeßlich bezeichnet und darum in ähnlicher Weise als entschuldigt gelten läßt wie etwa den Kurzsichtigen, wenn er auf der Straße nicht grüßt. Diese Personen vergessen alle kleine Versprechungen, die sie gegeben, lassen alle Aufträge unausgeführt, die sie empfangen haben, erweisen sich also in kleinen Dingen als unverläßlich und erheben dabei die Forderung, daß man ihnen diese kleineren Verstöße nicht übel nehmen, d. h. nicht durch ihren Charakter erklären, sondern auf organische Eigentümlichkeit zurückführen solle. Ich gehöre selbst nicht zu diesen Leuten und habe keine Gelegenheit gehabt, die Handlungen einer solchen Person zu analysieren, um durch die Auswahl des Vergessens die Motivierung desselben aufzudecken.“ (1, S.173)

An dieser Textstelle ist besonders bemerkenswert, daß Freud nicht nur perfekt eine wesentliche Facette der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) schildert, sondern daß er zu dem in geradezu seherischer Weise die Erkenntnisse der letzten Jahre als Argument der Betroffenen vorwegnimmt, wonach es sich nicht um eine Charakterschwäche, sondern um eine „organische Eigentümlichkeit“ handelt. Doch Freud wäre nicht Freud, wenn er nicht psychoanalytische Überlegungen zur Problematik der Aufmerksamkeitsstörung anstellte; und so fährt er in seinem Text fort:

„Ich kann mich aber der Vermutung per analogiam nicht erwehren, daß hier ein ungewöhnlich großes Maß von nicht eingestandener Geringschätzung des anderen das Motiv ist, welches das konstitutionelle Moment für seine Zwecke ausbeutet.“ (1, S.173)

Den von ADHS Betroffenen zeichnet es gerade aus, daß die Verhaltensauffälligkeiten durchgängig bestehen und persönliche Animositäten eine untergeordnete Rolle spielen. Andererseits ist Freud sicher beizupflichten, daß im Einzelfall – und hiervon sind natürlich auch und gerade unter ADHS Leidende nicht ausgenommen – bei der Vergeßlichkeit unbewußte Motive eine Rolle spielen können; er selbst nimmt sich hiervon nicht aus:

„So merkte ich in früheren Jahren, daß ich bei einer größeren Anzahl von Krankenbesuchen nie einen anderen Besuch vergesse, als den bei einem Gratispatienten oder bei einem Kollegen. Aus Beschämung hierüber hatte ich mir angewöhnt, die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren. Ich weiß nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zur gleichen Übung gekommen sind.“ (1, S.174), und wenig später: „Ich rühre ferner an Leiden, an welchem auch der größere Teil der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe, daß ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder daß es mir besonders leicht begegnet ist, Zahlungen durch Vergessen aufzuschieben. Unlängst verließ ich eines Morgens die Tabaktrafik, in welcher ich meinen täglichen Zigarrenkauf gemacht hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war eine höchst harmlose Unterlassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten, am nächsten Tag an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiß nicht außer Zusammenhang mit den Budget-Erwägungen, die mich den Vortag über beschäftigt hatten. In Bezug auf das Thema von Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Verhaltens auch bei den meisten sogenannt anständigen Menschen leicht nachweisen.“ (1, S.174/5)

Ein schönes Beispiel für ein typisches vergeßliches Verhalten liefert Freud an späterer Stelle in der gleichen Schrift:

„Sehr eindrucksvoll schildert die vergeblichen Bemühungen, eine Handlung gegen einen inneren Widerstand durchzusetzen, eine kleine Mitteilung von Dr. Karl Weiß (Wien): Wie konsequent sich das Bewußte durchzusetzen weiß, wenn es ein Motiv hat, einen Vorsatz nicht zur Ausführung gelangen zu lassen, und wie schwer es ist, sich gegen diese Tendenz zu sichern, dafür bietet der folgende Vorfall einen Beleg. Ein Bekannter ersuchte mich, ihm ein Buch zu leihen und es ihm am nächsten Tage mitzubringen. Ich sage sogleich zu, empfinde aber ein lebhaftes Unlustgefühl, das ich mir zunächst nicht erklären kann. Später wird es mir klar: Der Betreffende schuldet mir seit Jahren eine Summe Geldes, an deren Bezahlung er anscheinend nicht denkt. Ich denke nicht weiter an die Sache, erinnere mich aber ihrer am nächsten Vormittag mit dem gleichen Unlustgefühl und sage mir sofort: Dein Unbewußtes wird darauf hinarbeiten, daß du das Buch vergißt. Du willst aber nicht ungefällig sein und wirst deshalb alles tun, um nicht zu vergessen. Ich komme nach Hause, packe das Buch in Papier und lege es neben mich auf den Schreibtisch, an dem ich Briefe schreibe. Nach einiger Zeit gehe ich fort; nach wenigen Schritten erinnere ich mich, daß ich die Briefe, die ich zur Post mitnehmen wollte, auf dem Schreibtisch liegen gelassen habe. (Beiläufig bemerkt war einer darunter, in dem ich einer Person, die mich in einer bestimmten Angelegenheit fördern sollte, etwas Unangenehmes schreiben mußte.) Ich kehre um, hole die Briefe und gehe wieder weg. In der Elektrischen fällt mir ein, daß ich meiner Frau versprochen habe, ihr einen Einkauf zu besorgen, und ich bin recht befriedigt bei dem Gedanken, daß es nur ein kleines Päckchen sein wird. Hier stellt sich plötzlich die Assoziation Päckchen – Buch her und jetzt merke ich, daß ich das Buch nicht bei mir habe. Ich hatte es also nicht nur das erste Mal als ich fortging, vergessen sondern auch konsequent übersehen, als ich die Briefe holte, neben denen es lag.“ (1, S. 257/8)

In seinen berühmten Kapiteln über die Fehlleistungen („Freudscher Versprecher“, „Freudsche Fehlleistung“) aus den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ analysiert Freud das Phänomen der Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit:

„Auch in der Aufregung verwechselt man oft die Worte, aber auch die Dinge, man „vergreift sich“, und das Vergessen von Vorsätzen, sowie eine Menge von anderen unbeabsichtigten Handlungen wird auffällig, wenn man zerstreut, d. h. eigentlich auf etwas anderes konzentriert ist. Ein bekanntes Beispiel solcher Zerstreutheit ist der Professor der „fliegenden Blätter“, der seinen Schirm stehen läßt und seinen Hut verwechselt, weil er an die Probleme denkt, die er in seinem nächsten Buch behandeln wird. Beispiele dafür, wie man Vorsätze, die man gefaßt, Ver-sprechungen die man gemacht hat vergessen kann, weil man inzwischen etwas erlebt hat, wovon man stark in Anspruch genommen wurde, kennt jeder von uns aus eigener Erfahrung. Das klingt so ganz verständig und scheint auch gegen Widerspruch gefeit zu sein. Es ist vielleicht nicht sehr interessant, nicht so, wie wir es erwartet haben. Fassen wir diese Erklärungen der Fehlleistungen näher ins Auge. Die Bedingungen, die für das Zustandekommen dieser Phänomene angegeben werden, sind unter sich nicht gleichartig. Unwohlsein und Zirkulationsstörung geben eine physiologische Begründung für die Beeinträchtigung der normalen Funktionen; Erregung, Ermüdung, Ablenkung sind Momente anderer Art, die man psychophysiologische nennen könnte. Diese letzteren lassen sich leicht in Theorie übersetzen. Sowohl durch die Ermüdung wie durch die Ablenkung, vielleicht auch durch die allgemeine Erregung, wird eine Verteilung der Aufmerksamkeit hervorgerufen, die zur Folge haben kann, daß man der betreffenden Leistung zu wenig Aufmerksamkeit zuwendet. Diese Leistung kann dann besonders leicht gestört, ungenau ausgeführt werden. Leichtes Kranksein, Abänderungen der Blutversorgung im nervösen Zentralorgan können dieselbe Wirkung haben, in dem sie das maßgebende Moment, die Verteilung der Aufmerksamkeit in ähnlicher Weise beeinflussen. Es würde sich also in allen Fällen um die Effekte einer Aufmerksam-keitsstörung handeln, entweder aus organischen oder aus psychischen Ursachen. Dabei scheint nicht viel für unser psychoanalytisches Interesse herauszuschauen.“ (2, S.21/22)

Ganz in Übereinstimmung mit den heute bekannten Fakten über die ADHS (4) stellt Freud hier als eine der möglichen wesentlichen Ursachen auffälliger Zerstreutheit und Vergeßlichkeit „Abänderungen der Blutversorgung im nervösen Zentralorgan“ heraus und er weiß wohl, daß bei einer solchen Störung eine psychoanalytische Bearbeitung im Sinne der klassischen Analyse der damaligen Zeit wenig sinnvoll ist.

Betroffene berichten , diese Form der Psychoanalyse sei für sie mehr oder weniger eine unnütze Qual gewesen und habe ihr Selbstwertgefühl nicht gebessert.

Für Patienten mit ADHS ist die klassische Analyse eine Weiterführung der Probleme, die sie schon immer erlebt haben. Sie fühlen sich nicht angenommen, „es ist ihnen kalt“. Sie fühlen sich abgelehnt, wenn der Analytiker nicht mit ihnen spricht. Sie haben größte Probleme, ihre Not vor jemand auszubreiten, der ihnen als Mensch verborgen bleiben möchte. Sie müssen sich gleich zu Beginn der Therapie davon überzeugen, ob der Therapeut in der Lage ist, ihren meist umständlich überaus weitschweifigen Ausführungen zu folgen und sie einfühlsam anzunehmen. Der Denkprozess ist nicht kontinuierlich, sondern meist sprunghaft und von einschießenden Assoziationen geprägt. Wenn der Therapeut nicht dann strukturierend eingreift, wenn das häufige Abschweifen das genauere Betrachten einer Situation unmöglich macht, und den Patienten wieder zum Ausgangspunkt zurückführt, in dem eine Selbstreflexion eingesetzt hatte, ergibt sich die Situation, daß die Patienten eine lange Therapie absolvieren, von der sie im Nachhinein sagen, „es hat mir wenig gebracht“, es erscheint ihnen als vergeudete Zeit.

Nach langjähriger Erfahrung hat sich für betroffene Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen inzwischen eine neuere analytische Technik als sinnvoll herausgestellt (3) : In der psychoanalytisch- interaktionellen Therapie nach Heigl –Evers und Ott wird der Wunsch des Patienten nach einer erlebbaren Beziehung für beide Partner( Patient und Therapeut) innerhalb dieses anderen Verständnisses von modifiziertem psychoanalytischem Arbeiten erleichtert, der Pat, der sich selbst als hochgradig gestört erlebt, kann durch die Interaktion mehr Wertschätzung erfahren und somit ein stabileres Selbstwertgefühl aufbauen. Wegen der chaotischen Lebensweise ist die Möglichkeit, im Rahmen der interaktionellen Therapie auch die Aktualität der Gegenwart zu beachten, besonders wichtig.

Klaus-Henning Krause, Johanna Krause

Literatur

1. Freud, S.:Gesammelte Werke, Band IV. Zur Psychopathologie des Alltagslebens. S. Fischer, 7. Aufl. 1978

2. Freud, S.:Gesammelte Werke, Band XI. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. S. Fischer, 7. Aufl. 1978

3. Krause, K.-H., J. Krause und G.-E. Trott: Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter. Dtsch. med. Wschr. 124 (1999) im Druck

4. Swanson, J.M., J. A. Sergeant, E. Taylor et al.: Attention-deficit hyperactivity disorder and hyperkinetic disorder. Lancet 351 (1998) 429-433

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