Impulsivität

Nun fehlt noch ein wichtiges Symptom, das in seinem Erscheinungsbild oft die größten Probleme bereitet. Es handelt sich um die mangelhafte Impulskontrolle. Was ist damit gemeint? Die Kinder und auch die Erwachsenen fallen auf, weil sie unvermittelt in das Spielgeschehen einer Gruppe platzen oder als Erwachsene anderen ständig ins Wort fallen. Das sind Personen, von denen man den Eindruck gewinnt, dass sie nur über einen Motor, nicht aber über eine Bremse verfügen. Und es ist tatsächlich so, dass in einer bestimmten Hirnregion der Impuls, etwas zu tun, nicht gebremst wird. Dadurch können Handlungen und Gefühle sehr schnell unkontrolliert eine große Intensität annehmen und die Umgebung mit ihrer Heftigkeit im Auftreten erschrecken. So kennen wir Mädchen, die meistens ruhig und zurückgezogen sind, aber unerwartet große Wutanfälle bekommen. Gerade der Kontrast zwischen dem einerseits stillen, zurückgezogenen Verhalten und der plötzlich extremen Erregung andererseits macht Eltern und je nachdem auch Lehrer und Freunde hilflos. Bei Jungen äußert sich die mangelhafte Impulskontrolle eher durch draufgängerisches Verhalten, beispielsweise beim Radfahren oder durch schnell zu provozierende Prügeleien in Gruppen. Die Klage der Kinder „ich habe nicht angefangen, ich war es gar nicht schuld“, ist aus dieser Sicht vollkommen richtig und nachvollziehbar. Die Kinder haben kein Gespür dafür, dass sie durch die fehlende Kontrolle leicht provozierbar und für ihre Umgebung auch manipulierbar sind. Bei den Erwachsenen fällt auf, dass sie kein Gespür für Nähe und Distanz am Arbeitsplatz haben, „sie mischen sich überall ein“, weil sie kein Gefühl für die Privatsphäre Anderer haben. In Kombination mit Reizoffenheit kann es dann geschehen, dass alle Sinneseindrücke auch gleich ausgesprochen werden müssen; Betroffene erkennen schnell die Eigenheiten ihres Gegenübers und statt zunächst diese Erkenntnisse zu überdenken, müssen sie die „Neuigkeit“ gleich mitteilen. Kinder können so neue Lehrer verblüffen, aber auch sehr verletzen, wenn sie sich von ihnen abgelehnt fühlen.

Gerade diese Steuerungsprobleme sind oft die Ursache für die Vorstellung beim Schulpsychologen, der die Ursache der Schwierigkeiten in Spannungen im Elternhaus vermutet und deshalb zunächst nur eine Elternberatung vorschlägt. Oft können ein bis zwei Schuljahre vergehen, bis das Kind einem Kinderarzt oder Kinder- und Jugendpsychiater vorgestellt wird, der sich mit den verschiedenen Symptomen dieser Störung auskennt und auch medikamentöse Hilfe anbieten kann. Diese erlaubt dem Kind, über eine Steuerung seiner Gefühle und seiner Unruhe an einer Therapie teilzunehmen, die es befähigt, früher zu spüren, wann es Gefahr läuft zu entgleisen.

Was geschieht mit Ihrem Kind, wenn es Medikamente einnimmt? Die am häufigsten verordneten Substanzen sind sogenannte Stimulanzien. Dies bedeutet, dass die Gehirnhirnfunktion des Kindes angeregt wird, und nicht – wie meist fälschlicherweise behauptet wird -, dass eine Dämpfung des Gehirns erfolgen soll. Die Substanzen sind verwandt mit Amphetaminen, die von einigen Menschen missbraucht werden, um den Appetit zu zügeln oder um das Müdigkeitsgefühl zu vertreiben. Deshalb ist zum Beispiel das Medikament Ritalin® nur auf einem besonderen Rezept zu erhalten, damit die Menge der verordneten Substanz genau durch die Apotheke und den Amtsarzt überwacht werden kann. Auch andere Substanzen wie Pemolin – als Markenpräparat z.B. Hyperilex® – wirken anregend, sind in ihrer Wirkung jedoch nicht so stark und dürfen deshalb ohne ein Spezialrezept von der Apotheke abgegeben werden dürfen. Es erscheint geradezu widersprüchlich, ein unruhiges, übererregtes Kind mit etwas behandeln zu wollen, das eine anregende Wirkung auf das Gehirn hat. Die wahrscheinliche Erklärung ist jedoch, dass die Funktionen aufgrund einer verminderten Durchblutung bestimmter Gehirnabschnitte herabgesetzt sind. Das Kind regt mit seiner Zappeligkeit sich selbst an und verhält sich insgesamt eher wie ein völlig übermüdetes als ein ausgeschlafenes, aufnahmefähiges Kind. Untersuchungen mit Bilddarstellungen der Gehirnfunktionen haben diese Vermutungen bestätigt, die Wirkung der Medikamente konnte als Verbesserung der Hirntätigkeit in den betroffenen Bereichen nachgewiesen werden. Diese Normalisierung hilft den Betroffenen, sich mit den gestellten Aufgaben und Erwartungen gezielter auseinander zu setzen, das heißt, sie können sich anderen Reizen besser verschließen und sich nur auf das konzentrieren, was beispielsweise der Lehrer gerade den Mitschülern erklärt. Auch den Ruhigen, Unaufmerksamen hilft diese Behandlung, sich nicht ablenken zu lassen, nicht in Gegenwart anderer ständig eigenen Träumen nachzuhängen.

Auch die Kontrolle über die Muskulatur kann durch eine medikamentöse Behandlung positiv beeinflusst werden; dies ist daran zu erkennen, dass das Schriftbild besser wird, dass Kinder in die Lage versetzt werden, geordnet in Zeilen zu schreiben. Die Körpergeschicklichkeit, die bei sportlichen Leistungen eine große Rolle spielt, kann sich ebenfalls verbessern, so dass der soziale Rang innerhalb einer Gruppe deshalb steigt, weil aus einem ungeschickten Tölpel plötzlich ein guter Kumpel in einer Mannschaft geworden ist. Diese Erklärungen sollen veranschaulichen, dass es nicht nur um gute Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz geht, sondern dass auch die soziale Position durch eine solche Behandlung verbessert werden kann. Es gibt keine Standarddosis an Medikamenten, weil die Verarbeitung im Körper eines jeden Menschen unterschiedlich abläuft. Gerade zu Beginn einer Behandlung mit Stimulanzien kann es vorkommen, dass die Unterschiede im Verhalten des Kindes besonders extrem sind. Unter der Medikamentenwirkung sind die Kinder dann in der Lage, sich zu kontrollieren, in der Schule bessern sich die Leistungen. Am Abend bei nachlassender Wirkung werden sie zu Hause aggressiver und leiden vielleicht unter Schlafstörungen. Im Verlauf von mehreren Wochen und bei ausreichender Gabe von Medikamenten ändert sich dies jedoch dahingehend, dass die Kinder insgesamt längerfristig ausgeglichen und gut konzentriert sind, dass auch der Schlaf sich normalisiert. Es bedarf in den ersten Wochen viel an Geduld, weil sich die Hoffnungen der Eltern auf eine möglichst schnelle Verbesserung nicht gleich erfüllen, im Gegenteil kann gegen Abend die stärkere Unruhe mehr Probleme machen, als es zuvor der Fall war. Dieser Zustand verändert sich nach einer längerfristigen mehrmonatigen Behandlung jedoch deutlich, auch die eigentlich sehr kurzfristige Wirkung der Substanzen bewirkt dann nicht mehr diese starken Schwankungen im Befinden. Die Behandlung muss deshalb immer von einem Arzt überwacht werden, weil es Erfahrung und Zeit braucht, um die richtige Dosis zu finden und auch um regelmäßig zu kontrollieren, welchen Einfluss die Behandlung auf den Gesamtorganismus hat. Entgegen häufig geäußerten Ängsten bewirken die Stimulanzien bei den betroffenen Kindern keine Abhängigkeit; dies ist schon daran zu erkennen, dass viele Kinder die Medikamente nur widerwillig einnehmen. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch ist eine Suchtentwicklung bisher nicht dokumentiert. Fast immer ist es wichtig, dass neben der medikamentösen Behandlung eine verhaltensverändernde Psychotherapie erfolgt und den Eltern eine intensive Aufklärung ermöglicht wird, damit sie das Verhalten ihres Kindes besser verstehen lernen und sich selbst weniger provozieren lassen.

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