Erfahrungsbericht: „Unser schwieriges Leben mit Markus „

Können Sie sich vorstellen, wie sehr das harmonische Zusammenleben in einer Familie darunter leidet, wenn ein Kind den Erwartungen und Ansprüchen nicht gerecht wird, die unsere Gesellschaft an es stellt? Stellvertretend werde ich Ihnen Markus` Lebensgeschichte erzählen, so wie seine Mutter sie mir erzählt hat:

„Markus ist acht Wochen alt, als wir ihn aus der Kinderklinik abholen, in der er wegen seines zu geringen Geburtsgewichts aufgepäppelt wurde. Ich glaube nicht, daß das Glück und die freudige Erwartung leiblicher Eltern größer sein können als unsere, als wir unseren Sohn endlich zu Hause haben. Er schläft anfangs fast rund um die Uhr. Wenn er wach ist, liegt er still mit offenen Augen in seinem Nest und wartet reglos, bis wir ihn hochnehmen. Wir hängen ein Mobile über das Bettchen, ziehen die niedliche Spieluhr auf, aber er ist nicht sonderlich interessiert. Lange Zeit bleibt der Blick meist unergründlich und ist nur selten zielgerichtet. Wir holen uns Rat in der Kinderklinik und werden beruhigt: Alles normal!

Als Markus ein halbes Jahr alt ist, stellt der Kinderarzt während der Vorsorgeuntersuchung fest, daß seine motorische Entwicklung nicht zufriedenstellend verläuft. Er verschreibt eine Krankengymnastik. Zweimal in der Woche haben wir Termin und üben zusätzlich täglich zu Hause. Die Turnerei ändert jedoch nichts daran, daß unser Sohn vorläufig weder krabbeln noch sitzen lernt. Komisch, daß er sich noch mit ca. 15 Monaten rückwärts robbend fortbewegt. Wir wundern uns auch, wie er es schafft, sich aus dem Liegen zum Stehen hochzuziehen. Aber wehe, es amüsiert sich jemand über ihn! Dann tobt er unbändig.

Plötzlich kann er von einem zum anderen Tag laufen. Nun wird’s spannend, denn Markus bringt mich und meinen Mann in Schwung. Dauernd stolpert er oder eckt irgendwo an. Nichts ist mehr vor ihm sicher, pausenlos saust er durch die Zimmer und räumt ab. Unsere Wohnungseinrichtung beginnt neuerdings erst 1,50m über dem Fußboden. Diese Tatsache im Blick lernt Markus das Klettern. Bevor er auf die Idee kommt, Stühle und Kästen zu Hilfe zu nehmen, bedient er sich unserer Gardinen und Rolladengurte. Verbote und Unfälle ignoriert er. Außerdem fällt auf, daß er bei Besuch nicht von mir weicht. Er verkrallt sich regelrecht in meiner Kleidung. Wenn er mich loslassen soll, schlägt er begleitet von sich steigerndem Gebrüll wild um sich.

Beunruhigt suchen wir wieder die Kinderklinik auf. Ist das wirklich noch normal? Wir werden belehrt, daß unser Kind aufgrund seines schlechten Lebensstarts tiefsitzende Trennungsängste verarbeiten müsse. Wir sollen ihm Zeit lassen, das wird schon. Mich ärgert die Frage der Psychologin, ob wir auch ganz sicher seien, dieses Kind von Herzen zu lieben. Wir sollten uns bitte vor Augen halten, daß Markus eine nochmalige Enttäuschung nicht ohne Schaden verkraften würde. Mir kommen zwar langsam Zweifel, ob die ersten acht Wochen seines Lebens für sein Verhalten wirklich so ausschlaggebend sind, aber da uns Laien kein anderer Grund einfällt, akzeptieren wir die Meinung der Spezialistin.

Auf Festen rastet Markus regelmäßig aus, wir vermeiden deshalb tunlichst Ansammlungen von mehr als sechs Menschen. Natürlich entgeht uns nicht, wie sehr es Besucher in unserer Wohnung stört, wenn unser Sohn entweder die ganze Zeit über wie eine Klette an mir hängt oder aber wie ein Derwisch umhersaust. Versuchen wir jedoch, ihn zu bremsen, wird er aggressiv. Mehr und mehr wird im Bekanntenkreis und in der Verwandtschaft Kritik laut. Wir versuchen zu erklären, bitten um Verständnis und sind selbst ratlos.

Markus ist 2½ Jahre alt, als sich unsere Familie um Sabine, 5 Monate alt, vergrößert. Obwohl unser Sohn von Anfang an einbezogen wird, ist er monatelang völlig durcheinander. Er schläft kaum noch. Sobald ich mich Sabine nähere, schlägt und kratzt er mich. Ich rede mit ihm, drohe ihm Konsequenzen an, deren Durchführung uns unter anderem eine zertrümmerte Tür beschert. Als ich ihn nämlich nach einer aggressiven Attacke in sein Zimmer einsperre, solange ich mich um die Kleine kümmere, rast er mit dem Dreirad Marke Puki (sehr stabil) mehrfach gegen die geschlossene Tür. Ich bin mit den Nerven völlig fertig und muß mir von der Schwiegermutter anhören, daß der liebe Gott schon wisse, weshalb er nicht allen Frauen eigene Kinder schenke. Ich hätte seine weise Entscheidung akzeptieren sollen. Vielleicht seien die Kinder in einem Heim besser aufgehoben. Ähnliches höre ich von meiner Schwester, bei der ich mich ausheulen will. Sie ist der Meinung, daß Markus wahrscheinlich einen schlechten Charakter geerbt hat. Mit einer Mutter, die ihr eigenes Kind weggegeben habe, sei das ja auch kein Wunder.

Die verwandtschaftlichen Gefühle kühlen ab, wir werden auf Distanz gehalten. Auch unsere bisherigen Freunde haben immer weniger Zeit für uns. Im Adoptivelternkreis sprechen wir über unsere Probleme und erfahren, daß viele adoptierte Kinder verhaltensauffällig seien. Die Begründung dafür ist immer dieselbe: Die Kinder tragen an ihrer Biographie und brauchen viel Verständnis und Hilfe, um damit fertig zu werden.

Eine Kinderpsychologin schlägt für Markus eine Spieltherapie vor, damit er seine Schwierigkeiten besser bewältigen kann. Aber erst einmal darf er in den Kindergarten – vorläufig wenigstens. Er ist inzwischen 3 ½ Jahre alt und schon recht groß für sein Alter. Nach zwei Wochen sucht die Erzieherin das Gespräch mit mir. Ihrer Ansicht nach ist Markus noch nicht reif für die Gruppe. Er paßt sich nicht an, kann Aufforderungen nicht folgen, gerät außer Rand und Band, wenn es einmal lebhafter zugeht. Sie hat außerdem den Eindruck, daß ich den Jungen zu sehr an mich binde. Wir vereinbaren, daß wir bis zu den Herbstferien pausieren und danach einen 2. Versuch starten werden. Hinterher ärgere ich mich über mein Bemühen, Markus` Schwierigkeiten zu erklären, denn offensichtlich ist die Erzieherin nicht bereit, ihre Ansicht über mich zu revidieren.

Wir sind auch ohne Kindergarten vollauf beschäftigt. Die motorischen Störungen unseres Sohnes treten deutlicher hervor. Im Zusammenspiel mit anderen gleichaltrigen Kindern zeigt sich, wie eckig und wenig zielgerichtet er sich bewegt. Wir müssen wieder zweimal in der Woche zur Gymnastik und daheim systematisch üben. Die Spieltherapie hat ebenfalls begonnen. Anfangs geht Markus begeistert zu seiner Therapeutin, die er Renate nennen darf, aber nach einer Weile weigert er sich. Es kommt mir so vor, als sei er nach den Sitzungen immer besonders kopflos. Ich spreche Renate darauf an und muß mir sagen lassen, ich hätte den Jungen total verwöhnt. Es sei dringend Zeit, ihm Grenzen zu setzen. Markus habe nicht gelernt zu gehorchen. Wieder erliege ich dem Zwang, mich rechtfertigen zu müssen.

Daheim gehen mein Mann und ich bewußt strenger und konsequenter mit Markus um. Die Situation wird trotzdem immer verheerender. Markus bockt, es gelingt uns nicht, ihn zu führen. Lieber nimmt er Unannehmlichkeiten und Strafen in Kauf, als daß er gehorcht. Wieso ist er nur so schwierig? Sabine müßte eigentlich aufgrund ihrer Odyssee in den ersten Lebensmonaten (von der eigenen Mutter zur Großmutter, von dort ins Krankenhaus und schließlich Heimeinweisung) viel problematischer sein. Während sie jedoch problemlos heranwächst, ohne daß wir bewußt irgendwelche Erziehungsmaßnahmen ergreifen müssen, fühlen wir uns bei Markus gerade dazu immer wieder veranlaßt. Wir reden erneut mit Renate, daß unser kompromißloserer Umgang mit ihm die Situation nur verschärft habe. Ja, so streng dürften wir natürlich auch nicht mit ihm umgehen, werden wir belehrt. „Nun weiß ich überhaupt nicht mehr, wie ich reagieren soll!“ entfährt es mir und erhalte prompt die Antwort, genau das würde das Kind spüren.

Inzwischen wagen wir den 2. Versuch, Markus im Kindergarten unterzubringen. Ich bestehe darauf, weil ich mich unbedingt wenigstens ein paar Stunden am Tag von ihm erholen muß. Gegenüber der Erzieherin vertrete ich den Standpunkt, da doch ihrer Ansicht nach Markus´ Verhalten an meiner Unfähigkeit als Mutter läge, sei es nur folgerichtig, wenn er wenigstens zeitweilig von mir getrennt würde. Außerdem sei anzunehmen, daß erfahrene Erzieherinnen problemlos mit ihm umgehen könnten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten – Markus läßt mich nicht gehen, wenn ich ihn zum Kindergarten begleitet habe – klappt es aus meiner Sicht ganz gut. Wie die Erzieherinnen die Dinge sehen, lese ich an ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck ab, den sie für mich reserviert haben.

Im Jahr darauf verändert sich mein Mann beruflich, und wir ziehen nach Oberschwaben um. Markus ist nicht zu beruhigen, weil die neue Wohnung so anders aussieht. Alles soll so sein wie in seinem bisherigen Zuhause. Es dauert Wochen, bis er die einzelnen Räume und Türen auf Anhieb an der richtigen Stelle sucht.

Von einer Freundin erfahre ich mehr über Waldorfpädagogik. Wir beschließen, Markus am neuen Wohnort in den Waldorfkindergarten zu geben. Die Erzieherin dort ist selbst ein früheres Adoptivkind und zeigt viel Verständnis für unseren Sohn. Nachdem er in der ersten Zeit mehrfach ausbüxt, weil er ohne mich nicht bleiben will, blüht er bald richtig auf und kommt mittags begeistert nach Hause. Besonders gut bekommt es ihm, daß die Kinder, soweit es das Wetter erlaubt, im „Wäldchen“ spielen und toben dürfen. Wir entdecken, daß er ausgesprochen phantasiebegabt ist.

Bei der Einschulungsuntersuchung schlägt die Ärztin einen Schulreifetest vor. Das Ergebnis ist niederschmetternd. In dürren Worten teilt uns der Grundschulrektor mit, daß eine Einschulung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Frage komme. Markus sei zudem ein Fall für die Förderschule. Er könne Aufgaben, die man ihm stelle, ja nicht einmal dem Sinn nach erfassen. Als Beispiel führt er an, daß er statt einer Blume einen Kopf mit Knollennase und riesigem Hut gemalt habe. Markus erzählt mir später, er habe den Kaktus auf der Fensterbank abgemalt. Nun, wir beabsichtigen sowieso nicht, unseren Sohn dem staatlichen Schulwesen anzuvertrauen. Er wird in die Waldorfschule eingeschult.

Wieder tut sich Markus anfangs schwer mit der neuen Umgebung, mit den für ihn fremden Lehrern. Als ich am ersten regulären Schultag beim Verlassen des Schulgeländes einen Blick zurück in die Fenster seiner Klasse wage, sehe ich ihn schreiend mit dem Lehrer ringen, weil er mit mir nach Hause will. Mit dem Klassenlehrer hat Markus wiederum großes Glück. Dieser erfahrene Waldorfpädagoge weiß ihn zu nehmen und erträgt seine Eskapaden mit bemerkenswerter Geduld. Aber Markus leidet sehr darunter, daß er keinen Anschluß in der Klasse findet. Während Sabine mit ihrem ausgeglichenen Gemüt jederzeit Freundinnen hat, ist er meist allein. Er begeistert sich für Tiere. Wir bauen gemeinsam einen Stall, in den bald Zwergkaninchen, Meerschweinchen und später deren Nachkommen einziehen, die er fast zuverlässig über viele Jahre hinweg versorgt.

Markus` geduldiger Lehrer macht sich Gedanken um seine seelische Gesundheit. Auch in der 3. Klasse könne er immer noch nicht zuhören. Dafür platze er dauernd mit zusammenhanglosen Bemerkungen in den Unterricht hinein. Neulich habe er eine Kollegin mit „altes Arschloch“ betitelt. Er müsse seine Epochenhefte sorgfältiger führen. Im Rechnen zeige er kaum Fortschritte. Wo er auftauche, sei eine allgemeine Unruhe zu verspüren. Bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Schülern sei Markus mit Sicherheit beteiligt. Es stelle sich die Frage, ob er nicht besser in einer heilpädagogischen Einrichtung untergebracht sei.

Wir sind wieder einmal erschüttert und lassen uns einen Termin im Kinderzentrum des Kreiskrankenhauses geben. Diesmal verschweigen wir, daß Markus adoptiert ist. Vorher aber habe ich eine heftige Auseinandersetzung mit unserem Kinderarzt, weil dieser ihn nicht überweisen will. Wir sollen statt dessen eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchen. Schließlich stimmt er widerwillig zu und gibt mir einen Begleitbrief im verschlossenen Umschlag mit, den ich zu Hause öffne. Nach Meinung des Arztes sind alle Probleme hausgemacht. Mir fehlt demnach das notwendige Durchsetzungsvermögen gegenüber meinem Sohn, ich psychologisiere zu viel und bin nicht bereit, meine Erziehungsfehler einzusehen. An dem Jungen sei schon viel zu viel herumprobiert worden. Er sei außerdem mit gutem Grund eifersüchtig auf die beliebtere Schwester. Mein Mann wird interessanterweise überhaupt nicht erwähnt.

Im Krankenhaus wird Markus sorgfältig untersucht und getestet. In den Gesprächen mit den Ärzten haben mein Mann und ich zum ersten Mal das Gefühl, verstanden zu werden. Offensichtlich hat man sich hier nicht von dem Begleitbrief des Hausarztes beeinflussen lassen. Die Diagnose lautet schließlich „Minimale Cerebrale Dysfunktion“ (Anm.: Die inzwischen geläufige Bezeichnung lautet: Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit/ohne Hyperaktivität – ADS +/- H). Unser Sohn sei nicht ganz durchschnittlich intelligent, könne sich jedoch extrem schlecht konzentrieren. Er habe darüber hinaus erhebliche Koordinationsprobleme. Seine panische Angst vor allem Ungewohnten einschließlich fremden Menschen sei genauso wie die Rechenschwäche Ausdruck einer angeborenen Wahrnehmungsstörung. Auch nach unserer Beichte, daß Markus an Kindes statt angenommen sei, bleiben die Ärzte bei dieser Einschätzung. Die Schule erhält die Empfehlung, das Kind zu behalten, man bietet eine Beratung an. Die Klinik schlägt eine Ergotherapie vor, für die wir aber in erreichbarer Nähe keinen Therapeuten finden. Statt dessen beginnt Markus mit Reittherapie und nimmt in der Schule weiterhin an einer speziellen Heileurythmie teil. Für die Hausaufgaben beschäftigen wir 3mal in der Woche eine Waldorflehrerin im Ruhestand. Ich frage mich mehr als einmal, welche Möglichkeiten anderen betroffenen Eltern offen stehen, die nicht unsere finanziellen Mittel haben.

In unserer Ehe kriselt es inzwischen. Der neue Arbeitsplatz meines Mannes stellt sich als eine riesige Enttäuschung heraus. Vielleicht sollte ich ihm vermehrt den Rücken stärken, besser und öfter zuhören, aber mir wachsen die Probleme auch über den Kopf. Das Leben mit Markus ist äußerst anstrengend. Sabine fühlt sich oft zurückgesetzt, weil ich ihrem Bruder so viel Zeit widmen muß. Es ist nicht immer einfach, zwischen den Geschwistern einigermaßen gerecht auszugleichen. Die täglichen, meist aus nichtigem Grund entstehenden Zankereien tragen erheblich zu der sowieso aufgeladenen Atmosphäre bei. Die Situation eskaliert auf einer Familienfeier. Während die Schwiegermutter für alle anderen Enkelkinder ein kleines Geschenk mitgebracht hat, geht Markus mit der Begründung leer aus, er habe sich das letzte Mal nicht bedankt. Wir können nicht verhindern, daß er in seiner Wut einen Teller durch das geschlossene Fenster feuert. Ich verlasse mit den Kindern das Fest – mein Mann bleibt und betrinkt sich sinnlos. Wieder einmal!

(Anmerkung: Um es kurz zu machen, die Familie hat schließlich die Krise gemeinsam überwunden, die Ehe ist in ihrem Bestand inzwischen nicht mehr gefährdet.)

An den Kindern ist diese sehr schwierige Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Während jedoch Sabine ihr seelisches Gleichgewicht bald wiederfindet, verstärken sich die Probleme mit unserem Sohn. Er prügelt sich wiederholt mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft, wobei er einen Kontrahenten ernstlich verletzt. Häufiger kommt er nicht nach Hause, einmal müssen wir ihn durch die Polizei suchen lassen. Wir kommen nicht mehr an ihn heran. Jeder Versuch endet damit, daß er uns wütend anbrüllt. Das Jugendamt schaltet sich ein. Wäre der Leiter nicht ein unmittelbarer Nachbar, der uns gut kennt; wer weiß, wie das ausgegangen wäre. Irgendwann kommt auch Markus wieder zu sich. Verstärkt sucht er nun trotz seiner 12 Jahre unsere körperliche Nähe. Nachts schleicht er in unser Bett, weil er solche Angst hat.

Zufällig bekomme ich das Buch von Dr. Walter Eichlseder „Unkonzentriert?“ in die Hände. Er beschreibt haargenau Markus` wesentliche Schwierigkeiten und hilft solchen Kindern mit einem Medikament namens „Ritalin“. Ich versuche, den Autor zu erreichen und muß leider erfahren, daß er im Sterben liegt. Mit dem Buch in der Tasche suche ich nochmals das Kinderzentrum auf, um mich beraten zu lassen. Man hält dort zwar nichts von Medikamenten, wäre aber trotzdem bereit, einen Versuch zu unternehmen, wenn unser Hausarzt einbezogen würde. Der winkt ab, da Ritalin zu den Betäubungsmitteln gehört, und seiner Ansicht nach süchtig macht. Dr. Eichlseder hält er für einen Scharlatan.

Zu Beginn der 8. Klasse muß Markus‘ langjähriger Lehrer aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gehen. Die eiligst gefundene Nachfolgerin wird mit den Problemen in der Klasse natürlich nicht auf Anhieb fertig. Vor allem schwierige Kinder wie unser Sohn verschärfen die Situation. Markus hat sicher zu Recht den Eindruck, daß die Lehrerin ihn nicht mag. Er will nicht länger in dieser Schule bleiben, wir haben täglich Streit deswegen. Mein Mann und ich bestehen darauf, daß er bis zum Schuljahresende durchhält. Die örtliche Hauptschule lehnt ihn jedoch nach Begutachtung der letzten Zeugnisberichte und einem Test ab, Markus müsse bei seinen Defiziten in eine Förderschule. Jenseits der bayerischen Grenze finden wir jedoch eine Hauptschule, die ihn ohne Aufnahmeprüfung in die 8. Klasse aufnimmt.

Der Wechsel tut unserem Sohn gut. Die Lehrer loben begeistert sein Sozialverhalten (!), seine Allgemeinbildung und Kreativität. Markus stellt verwundert fest, daß es Mitschüler und Mitschülerinnen gibt, die größere Schwierigkeiten als er haben. Er bekommt Auftrieb, wird selbstbewußt bis zur Überheblichkeit, seine Leistungen sind zufriedenstellend. Das Abschlußzeugnis mit der Durchschnittsnote 2,9 ist für uns alle eine freudige Überraschung.

Während seiner Lehre kommt es zeitweise zu Schwierigkeiten, weil Markus sich von seinem autoritären Ausbilder nicht gern etwas sagen läßt. Seine handwerklichen Fertigkeiten entsprechen nicht ganz den Anforderungen. In der Berufsschule erweisen sich seine mathematischen Fähigkeiten als mangelhaft. Einmal in der Woche sucht er einen Therapeuten auf, mit dem er seine Probleme aufarbeitet. Er hat sich der Jugendorganisation einer politischen Partei angeschlossen. Vorübergehend sind alle ganz begeistert von ihm, weil er so schön geschliffen reden kann. Inzwischen hat man jedoch gemerkt, daß er leider auch nicht zu bremsen ist.

Markus ist heute 20 Jahre alt, ein großer, schlaksiger Kerl, der in seiner Basketballmannschaft meist auf der Reservebank sitzt. Aber er geht sowieso nur hin, weil er dort einen Freund hat, den ersten in seinem Leben. Ich freue mich für Markus, denn dieser Freund scheint ihn ehrlich zu mögen. Für die Gesellenprüfung, die Markus mit einer knappen „Drei“ abschließt, hat er fleißig mit ihm gelernt.

Zur Zeit leistet unser Sohn den Wehrdienst ab. Seinen Arbeitsvertrag hat er schon in der Tasche, denn die Ausbildungsfirma will ihn wider Erwarten weiter beschäftigen. Wir sehen ihn nicht mehr oft und vermuten, daß er ein Mädchen kennengelernt hat. Er ist erwachsen geworden und hat einen Platz im Leben gefunden.“

Soweit Markus‘ Lebensweg, den ich über weite Strecken mit verfolgen konnte, denn ich bin mit seiner Mutter befreundet. Von ihr habe ich die Erlaubnis, seine Geschichte abzudrucken. Die Weiterverwendung ist anderen natürlichen oder juristischen Personen nur mit meiner Einwilligung gestattet.

Gertraude Fydrich

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